Lindens wohlfeiler Kommentar zum Rechtsruck im Osten
Zur Europawahl 2019 schrieb die Zeit, man müsse mehr zuhören und verstehen, weshalb es zu einem Rechtsruck in Ostdeutschland gekommen sei. Es gebe zwar den “schulterzuckenden oder sogar beifallklatschenden Rassismus mancher” und “dieses Autoritäre, diese Knüppel-auf’n-Kopp-Welt derer, die Orbán und Putin so lieben,” aber der Riss in der Gesellschaft sei auch Folge der Nichtachtung der “Ablehnungsmilieus”. Der Artikel schließt mit dem Appell, “diese Menschen brauchen Unterstützung, manche brauchen konkret Geld. Was sie jedenfalls nicht brauchen, sind wohlfeile Kommentare aus Hannover-Linden” (Christian Bangel, Ernstfall Ost, 27.5.2019, S.2).
Nun rätselt die Facebookgemeinde, weshalb nun ausgerechnet ihre ‘schönste Welt der Stadt’ in der Zeit Erwähnung findet. Wo ist der entscheidende Kommentar, die Breitseite, der illegitime Post gegen den Osten erschienen? Warum nicht Kreuzberg, Ehrenfeld oder Eimsbüttel? Ausgerechnet Linden.
Aber warum eigentlich nicht Linden? Mit einem Forschungsprojekt waren wir für eine vergleichende Studie gerade in zehn Großstädten der Republik (Soziale Vielfalt im Blick: Stadtquartiere unter Nachfragedruck). Überall entstehen neue Lebensmodelle, Ideen des urbanen Zusammenlebens in einer postindustriellen Gesellschaft. Und Linden schwimmt dabei auf einer Welle, ganz oben.
Für eine Erklärung des Auseinanderdriftens der Republik bedarf es aber eines weitgefassten Rückblicks. Nicht von ungefähr feiert sich der intellektuelle Kern der orthodoxen Rechten in der “radikalen Idylle” am Elbhang Dresdens dieser Tage selbst. Unter dem Titel ’70 Jahre DDR’ ziehen sie den Bogen einer Ostidentität bis tief in die SED-Vergangenheit. Rechts und DDR finden zusammen. Alle treffen sich im Buchhaus Loschwitz bei Susanne Dagen. Der Schriftsteller Uwe Tellkamp und der einst aus dem Neuen Forum in die CDU gegangene ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz. In der Reihe ‘Mit Rechten lesen’ organisiert Götz Kubitschek, der Männerfreund Höckes, das intellektuelle Netzwerk des Ostens. Der Lyriker Christian Kleinschmidt findet wie andere in der wohligen Wärme rechter Identitäten seine Genugtuung: “Man sollte es nicht für menschenunmöglich halten, dass sich auch ein Rechter aufrichtig Sorgen ums Land macht” (vgl. Ijoma Mangold, Eine radikale Idylle?, 28.5.2019).
Uwe Tellkamp selbst hat die Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Rechtsrucks bereits in seinem Meisterwerk ‘Der Turm’ antizipiert. Es ist die Rehabilitation des “Sächsischen Zauberbergs”, des Bildungsbürgertums der DDR. Fest verwoben in die SED, lieber lustwandelnd im Klub der Intelligenz am großbürgerlichen Elbhang, um im Lignerschloss und anderswo dann schließlich doch die offizielle Politik der DDR kulturell zu untermalen. Die DDR ist sein Atlantis, die untergegangene Gesellschaft, die ewiggestrige Erinnerung an ein analoges Leben der engen Nachbarschaften, die philologische Deutungshoheit und die distinguierte Weinseligkeit in seinem Turm, der trutzigen Burg abendländischer Gesinnung. Dort im ersten christianisierten Dorf vor der unendlichen Weite des heidnischen Ostens.
1990 war ich im Rahmen eines Hilfseinsatzes tatsächlich Werktätiger der DDR, als Hilfspfleger in einem Altenheim, weil die Hälfte der Belegschaft in den Westen gegangen war (s.u.). Dort in Weimar habe ich die Volkskammerwahl miterlebt. Der schmutzige Wahlkampf der Union in Gestalt der Allianz für Deutschland (sic!), die Übernahme der Macht durch uns Wessis und die treuhänderische Enteignung der (desolaten) Volkswirtschaft war, ja so muss man es sagen, eine beschämende Okkupation. Der Osten hat sich trotz blühender Landschaften nicht davon erholt. AfD und Pegida sind auch eine Antwort auf Helmut Kohl. Braindrain und Perspektivlosigkeit der Transformationsgeneration haben diese Melange zwischen Dagebliebenen und entwertetem Bildungsbürgertum entstehen lassen, wie sie in dem übrigens ebenfalls “wohlfeilen” Zeit-Artikel gut beschrieben wird. Es gibt aber auch die 75 Prozent anderen, das darf nicht unterschlagen werden. Ich habe alle Jahre die Gespräche geführt, bin in alle Landesteile des Ostens gereist und fühle mich nicht nur familiär verbunden.
Doch das Ergebnis ist: Dreißig Jahre später kann ich mit meinem Cousin, der einfach nur ein anderes askriptives Merkmal aufweist, definitiv nicht mehr gemeinsam nach Dresden fahren. Müssen wir ja auch nicht? Doch, ich habe dort beruflich zu tun, er bzw. seine Firma würden wollen. Deshalb mische ich mich ein. Deshalb bin ich auch zu Studienzeiten nach Linden gezogen. Das Gegenmodell zu Ausgrenzung und Segregation. Ja, das ist gewissermaßen ein Bruch mit der abendländischen Sozialisation, auf deren Ticket die halbe Welt überfallen wurde.
Allein die Anwesenheit Lindens wird damit zur Metapher einer Gegenwelt. Hier findet sich Geborgenheit und Anerkennung ohne Ausgrenzung. Das global-urbane Dorf entsteht inzwischen in vielen Städten, getragen von jungen kritischen Menschen inmitten diverser Lebenswelten. Ich war vor ein paar Wochen im Leipziger Osten, dem angeblich gefährlichsten Stadtteil Deutschlands. Natürlich wird die Eisenbahnstraße dort bald die Limmerstraße des Ostens sein. Das Modell wirkt. Neugier statt Abkehr, Inklusion statt Eugenik, Bunt statt braun. Schmuddelig statt Rasenkante.
Linden ist der Soft Skill, der soziale Kitt in einer Gesellschaft, die beileibe nicht gut ist. Linden steht am unteren Rand der materiellen Hierarchie, Hannover selbst kämpft darum, nicht die rote Laterne der armutsgefährdenden Großstädte zu tragen. Über 20 Prozent der Bevölkerung in Hannover und über 30 Prozent der Haushalte mit Kindern wissen nicht, wie sie über den Monat kommen können. In Linden-Süd erhält gar jeder Dritte Transferleistungen und jede zweite Familie muss unterstützt werden. Die AfD kam nur auf 3,7 Prozent.
Die anderen in der Stadt zahlen gewissenhaft ihre 5,5 Prozent Solidarbeitrag für den Osten. Das ist konkrete Hilfe. Der Kaberettist Olaf Schubert fordert die Wessis nun auf, sich das Ergebnis auch einmal anzuschauen: “Die Autobahn vierspurig (…), die Mittelleitplanke versilbert mit purem Gold. Kommt vorbei! Schaut es Euch an, ich kann sagen, wir haben uns hier in den letzten 25 Jahren ganz schön was aufgebaut, wo ich mich frage, was habt Ihr gemacht? (Alexandra Gerlach, 2017, Gekommen, um zu bleiben. Der Solidaritätszuschlag). Dresden hat Hannover lange überholt, in allen 10 Großstädten Ostdeutschlands sinkt die Armutsquote kontinuierlich.
Die westdeutschen Großstädte profitieren indes von ihrer Weltoffenheit, vom Gefühl des Willkommenseins, der Einheit in Verschiedenheit, wie es der Soziologe Rainer Geißler formulierte (Rainer Geißler 2003, Multikulturalismus in Kanada – Modell für Deutschland?). Hannover lebt inzwischen über den Möglichkeitsraum Linden hinaus. Das “Silicon Valley der Menschlichkeit”, wie der Unternehmer Dirk Rossmann ganz Hannover inzwischen umreißt, ist hoch attraktiv. Und der CEO des Automobilzulieferers Wabco bekommt deshalb so gute internationale Ingenieure in sein Unternehmen, weil die hier gerne wohnen, unseren Stadtteil und die offene Stadt genießen. Das sagt er, nicht ich.
Es gibt also einen triftigen Grund, sich einzumischen. Linden provoziert ja bereits durch seine pure Existenz, selbst ohne wohlfeilen Kommentar. Und weil ich etwas für richtiger halte, mische ich mich ein und schreibe Leserbriefe, auch in “regionalen Kulturblättchen” (vgl. dazu Elbhangkurier, Offener Brief zum Buchhaus Loschwitz und Leserbrief unten).
Ja, der Osten geht alle an. Wenn Kubitschek auf der Veranstaltung im Kulturpalast fordert, “dass der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deutlicher, noch konkreter wird”, dann ist das bereits der Aufruf zum Sonderweg des Ostens. Wenn die AfD Sachsen sich zur Landtagswahl im Herbst 2019 sieht als „Alternative zu einer Partei, die alle Ideale vom November 1989 vergessen hat“ und einen “revolutionären” “Führungsanspruch” geltend macht, dann ist das eine Kampfansage an die demokratische Gesellschaft, die Widerspruch einfordert. Wenn Bernd Höcke Wehrdörfer für die “Rückeroberung des Landes” aufbauen will, dann wird der gesamte Plan verständlich.
Doch es kommt etwas in Bewegung, es beginnt Gegenwehr. Dresden erkennt die Isolation inzwischen. Bei der Kommunalwahl 2019 sind die Grünen stärkste Kraft im Stadtrat geworden, ein Ergebnis, das etwas untergegangen ist im Schatten der Europawahl. Dresden ist nicht nur Elbhang sondern auch bunte Republik Dresden-Neustadt. Die Gegenmächte müssen sich artikulieren, auch Dresden lebt von globalen Unternehmen und internationaler Kultur.
Auch am Elbhang wird inzwischen die rechte Gemütlichkeit in Dagens Buchhaus gestört. Die Dresdner Publizisten Hans-Peter Lühr und Paul Kaiser haben in einem offenen Brief beklagt, dass sich die Buchhändlerin “mit dem rechten Spektrum der Gesellschaft” solidarisiere. Der angesehene Dresdner Mediziner Gerhard Ehninger hat ein Festival gegen Pegida mit initiiert, auf dem Herbert Grönemeyer, Keimzeit und Silly auftraten und im Kulturpalast hat Durs Grünbein gegen Uwe Tellkamp Position bezogen. Streit muss sein, schreibt die Zeit. Nogo-Areas und Übernahme von Landesregierungen durch Höcke und co. sind nicht irgendwo sondern mitten unter uns. Geht hin, schaut es euch an, mischt euch ein. Vielleicht ist das nur ein Teil der Antwort, aber ein Erklärungsansatz, weshalb Hannover-Linden als gallisches Dorf plötzlich in der Zeit auftaucht.